Prekarität hat viele Gesichter – 2. Bericht der Brigade “Meena Keshwar Kamal”

22. März 2019|Berichte, Brigaden

Acción sindical an einer Grundschule – Prekarität nicht nur im Gewächshaus

Die SAT Almería unterstützt auch Arbeiter*innen anderer Sektoren wie hier in einer Schule in Retamar.

Unsere regelmäßigen Gewerkschaftsaktionen (acciones sindicales) finden zumeist bei Sonnenaufgang zwischen den endlosen Weiten der Gewächshäuser statt. Dass dies nicht das einzige Arbeitsfeld der SOC-SAT ist, zeigt unsere Informations- und Protestaktion in der vergangenen Woche. Wir unterstützten zweimal den Protest von Arbeiter*innen vor einer Schule in Retamar, einer kleinen Stadt in der Nähe von Almeria. Zwei Frauen, die während der Mittagspausen auf die Kinder aufpassen, hatten die Gewerkschaft wegen ihrer schlechten Arbeitsbedingungen kontaktiert. Ihre Tätigkeiten werden weit über die vertraglich festgelegten Arbeitsfelder ausgeweitet. Tätschlich müssen sie das Essen vorbereiten und putzen nach ihrer Schicht noch eine halbe Stunde ohne Bezahlung.

Spannend ist auch, dass die Frauen bei einem französischen, multinationalen Unternehmen angestellt sind, dass sich selbst Ernährungssouveränität auf die Fahne schreibt. Der Begriff impliziert einen verantwortungsvollen und nachhaltigen Umgang mit Lebensmitteln und ist auch stark von Via Campesina geprägt. Die Aneignung des Begriffes durch ein Unternehmen, dass einen solchen Umgang mit den Arbeitnehmenden pflegt, ist befremdlich.
Zusammen mit Podemos verteilten wir Flyer an die Eltern und die älteren Schüler*innen, was generell gut aufgenommen wurde. Eine Vertreterin der Elternschaft kam am zweiten Tag auf uns zu und unterstützte die Idee einer Unterschriftenliste, um gerechte Arbeitsbedingungen in der Kinderbetreuung gegenüber der Schulleitung durchzusetzen. Aktuell hat sich die Situation infolge der regelmäßigen Aktionen deutlich verbessert. Die Putzarbeiten und die unentlohnte Überstunde entfallen bisher.

Akkordarbeit in den Salatfeldern Almerías

Seit Anfang unserer Brigade greifen wir immer wieder Kämpfe von Arbeiter*innen auf, die im  prekären Sektor des Salatanbaus arbeiten. Ungefähr anderthalb Stunden von Almería entfernt liegt der Betrieb Hermanos Chumbos S.L., bei dem es vor zwei Wochen zu einem Konflikt gekommen ist, nachdem zehn Personen von der Arbeit suspendiert wurden. Diese hatten vorher via Gewerkschaft Beschwerden bei den Behörden eingereicht. Zusammen mit diesen Arbeiter*innen fuhren wir zum Betrieb, um mit Flaggen und Flyern den Protest zu unterstützen und um uns selbst ein Bild vor Ort zu machen.
Die Arbeiter*innen erzählten uns, dass sie in Akkord arbeiteten, d.h. sie werden nicht nach Stunden, sondern nach Leistung bezahlt. Das führt dazu, dass die Arbeiter*innen sehr unstete Arbeitszeiten haben und damit auch sehr fluktuierende Löhne erhalten. Während Produktionsspitzen arbeiten sie häufig 11 bis 14 Stunden pro Tag bis in die Nacht im Licht der Traktoren. Wenn die Produktion nachlässt oder es regnet, verdienen die Arbeiter*innen wenig oder sogar gar nichts – obwohl sie nach 2 Stunden (Verhinderung durch Regen) 75%, später sogar 100% ihres Lohnes ausgezahlt bekommen müssten.
Diese Woche waren wir bei dem Betrieb Agricola M., bei dem die Situation ganz ähnlich aussieht. Auch hier arbeiten die Menschen in Akkordarbeit. Bei einer spontanen Versammlung in der Pause mit den Arbeiter*innen sprachen wir mit ihnen über ihre Arbeitsbedingungen und Probleme im Betrieb. Einige sprachen sich offen für eine Bezahlung pro Stunde aus, andere verteidigten die Akkordarbeit, da behauptet wird, dass sie so mehr verdienen würden.

Akkordarbeit ist im Salatanbau typisch. In Produktionsspitzen arbeiten die Beschäftigten bis zu 14 Stunden.

Für die Beschäftigung in Akkordarbeit gelten in Spanien enge Regeln. So muss vertraglich genau festgehalten werden, wie bezahlt und in welchem Arbeitsfeld gearbeitet wird. Gleichzeitig muss die Vergütung der Arbeiter*innen mindestens einer Bezahlung nach Mindestlohn entsprechen.
Aus unternehmerischer Sicht ist die Akkordarbeit eine Maßnahme, um Arbeiter*innen zu einer sehr hohen Arbeitsleistung zu motivieren und eine hohe Flexibilitat zu behalten. Die eigentlich strengen Regeln für die Akkordarbeit werden von den Unternehmer*innen übergangen und die Beschäftigungsmodelle nach Stundenlohn und Akkordarbeit gegeneinander ausgespielt. Dies führt bei den Arbeiter*innen zu einem sehr hohen physischen und psychischem Druck, da sie viele Überstunden unter harten Bedingungen arbeiten. Eine betriebsinterne Strategie ist es, Arbeiter*innen zur Bestrafung übergangsweise zur Arbeit nach Stundenlohn einzusetzen. Dabei werden ihnen nur wenige Arbeitsstunden zugeteilt und sie kommen nicht auf ihren normalen Lohn, obwohl das nicht in ihren Arbeitsverträgen festgehalten ist. Weiterhin sind sowohl das Lohnniveau als auch der Akkordlohn so niedrig, dass die Arbeiter*innen für ihre Arbeit nicht den Mindestlohn erhalten. Die finanzielle Situation der Arbeiter*innen würde sich wesentlich verbessern, wenn ein Gehalt nach Stundenlohn ausgezahlt wird, denn dann müssten Überstunden und Feiertage auch als solche ausgezahlt werden.

Die Stimmung in den Betrieben, denen wir einen Besuch abstatteten, ist angeheizt. Letzte Woche wurden 5 Arbeiter vom Betrieb Hermanos Chumbos mit der Begründung gefeuert, dass sie das Betriebsklima gestört und Unmut gesät haben sollen.
Es passiert leider oft, dass Arbeiter*innen, die sich an die Gewerkschaften wenden oder auf anderem Wege ihr Rechte einfordern, als Störenfriede wahrgenommen werden und Repressalien erleiden. Eine Beendigung des Arbeitsverhältnisses kann damit aber offiziell nicht begründet werden, deswegen versucht die SAT die Kündigung der fünf Arbeiter als “despido nulo”, also als unrechtmäßig zu erklären. Wenn die Klage durchgeht, müsste der Betrieb die Arbeiter wieder einstellen und rückwirkend alle Lohnausfälle übernehmen.

Der Kampf für einen neuen Tarifvertrag für alle Gewächshäuser und Abpackhallen

Jeden Donnerstagabend fährt José, der Gewerkschaftsprecher, ins SAT-Lokal nach San Isidro und berät dort Arbeiter*innen. Die Region um San Isidro und das benachbarte Campohermoso sind besonders marginalisiert. Viele landwirtschaftliche Unternehmen und Familienbetriebe sind in dieser Region angesiedelt, die Städte liegen mitten im Plastikmeer. Mieten sind hier relativ preiswert und dementsprechend wohnen hier viele Arbeiter*innen und Migrant*innen.

Jeder Donnerstagabend ist gut besucht, aber der letzte war besonders voll. Ca. 70 Arbeiter*innen standen vor dem SAT-Lokal, als wir ankamen. Alle brachten neue Konflikte mit, die von der SAT Almería bearbeitet werden müssen. Erfolgreich geführte Arbeitskämpfe sind Werbung für sich und so kommen immer mehr Arbeiter*innen, die sich organisieren und für ihre Rechte kämpfen wollen. Viele von den Problemen und Konflikten ähneln sich: Mindestlohn, der nicht gezahlt wird, kein Transportgeld, falsche Gehaltsabrechnungen, keine Pausen.

Um für einen neuen Convenio del Campo zu mobilisieren, rufen wir am 24.03 zu einer Demo auf.

Die SAT in Almería versucht die Konflikte zu bündeln und in einem gemeinsamen Kampf zur Sprache bringen: der Kampf für einen neuen Convenio del Campo (Tarifvertrag für die Landwirtschaft). Wir haben im letzten Bericht schon über den Convenio del Campo berichtet. Kurz zur Erinnerung: Der alte Tarifvertrag für die Region Almería ist 2016 ausgelaufen und seitdem wird neu verhandelt, bisher ohne Erfolg.
Da die Arbeitgeberseite bisher keine Notwendigkeit zur Neuverhandlung sieht, muss öffentlicher Druck aufgebaut werden. Um diesen Prozess in Gang zu setzen, ins Bewusstsein der Arbeiter*innen und in das Licht der Öffentlichkeit zu bringen, hat die SAT eine Demonstration von Campohermoso nach San Isidro am 24. März geplant. Die Vorbereitung nimmt momentan einen großen Teil unserer Brigadearbeit in Anspruch: 7000 Flyer und 200 Plakate sind gedruckt, bisher wurden 3 Mobi-Videos veröffentlicht und wir haben uns mit der CNT und Podemos zur Vernetzung getroffen. Zusammen mit Arbeiter*innen der SAT verteilen wir die Flyer und Plakate in den Straßen von San Isidro und Campohermoso und stoßen auf viel Zuspruch. Aus Granada und anderen Regionen Andalusiens werden Delegationen der SAT anreisen.

Von den Mühen der Ebene – Gewerkschaftsaufbau in Huelva

Dieses Wochenende ist ein Teil unserer Gruppe zusammen mit weiteren SAT-Mitgliedern nach Huelva gefahren, um geplante Gewerkschaftsstrukturen im Entstehungsprozess zu unterstützen. Wir haben Gewerkschafter*innen aus der Gegend um Motril (zwischen Almería und Málaga), Granada, Jaén (zwischen Córdoba und Granada), Sevilla, Huelva und Umgebung begleitet. Das Ziel des Treffens war die Analyse derzeit bestehender gewerkschaftlicher Strukturen in der Region und die Planung der für eine kontinuierliche Arbeit notwendigen Schritte.

Huelva liegt direkt vor der portugiesischen Grenze und hat neben dem Hafen und einer großen Industrie auch viel landwirtschaftliche Anbaufläche. In Huelva und Umgebung werden viele Beerenfrüchte, wie Erdbeeren, Himbeeren oder Blaubeeren, angebaut. Ein aktuelles Problem stellen die prekären Arbeitsbedingungen der Erntehelfer*innen dar. Meistens kommen diese aus Marokko oder Osteuropa und sind nur temporär für die Saison beschäftigt. Besonders für migrantische Frauen gelten erschwerte und unfaire Bedingungen. Zum einen stellt die Sprache eine (mögliche) Barriere dar, zum Anderen das Abhängigkeitsverhältnis zu Vorgesetzten in den Unternehmen.

Arbeiter*innen aus Huelva berichten über ihre prekarisierte Arbeitssituation.

Der Hauptfokus der SAT in der Provinz Huelva liegt zunächst auf dem Aufbau und der Etablierung gewerkschaftlicher Strukturen. Bisher ist die Arbeit von drei Gewerkschafter*innen in Huelva lokal in drei Bereiche eingeteilt. Durch ein Büro in der Stadt Huelva soll die Arbeit besser miteinander verknüpft und für Beratungsuchende besser erreichbar werden. Eine rechtliche Beratung soll dort einmal die Woche stattfinden. Außerdem wurde bereits Infomaterial auf Spanisch und Arabisch zur Gewerkschaft und zu den Rechten der Arbeiter*innen gedruckt. Des Weiteren soll eine Kooperation mit einer marokkanischen Gewerkschaft etabliert werden, da viele Arbeiter*innen über sogenannte  “contratos de origen” in den Unternehmen in Huelva beschäftigt sind. Diese Verträge werden bereits in Marokko unterzeichnet und sind mit einer nur für die Saison geltenden Aufenthaltserlaubnis verknüpft.
Am ersten Abend waren wir bei einem Treffen mit Fátima und Ana, die für die SAT in Huelva arbeiten, und Arbeiter*innen eines Unternehmens, das Blaubeeren anbaut. Es ging um ein erstes Kennenlernen untereinander, die Probleme der Arbeiter*innen im Unternehmen und die Strukturen der SAT. Aus den Schilderungen lässt sich schließen, dass die Situation in Huelva  von großer Willkür und Ausbeutung seitens der Betriebe geprägt zu sein scheint. Vor allem sexualisierte Übergriffe und Missbräuche seien laut der Arbeiter*innen in vielen Betrieben weit verbreitet. Es wurde eine “acción sindical” für den nächsten Morgen bei dem Unternehmen der anwesenden Arbeiter*innen geplant. Bei dieser waren drei Vorarbeiter die ganze Zeit vor den Toren anwesend und so hielten nur ein Drittel der Beschäftigten mit dem Auto bei uns an und sprachen mit uns. Am Nachmittag fuhren wir zu verschiedenen Feldern und verteilten Flyer an Arbeiter*innen, die wir dort antrafen.
Insgesamt war unser Aufenhalt von vielen Diskussionen und Austausch über den weiteren Plan für die Arbeit der SAT in Huelva geprägt. Wir sehen die Notwendigkeit die Infrastrukturen vor Ort auf- und auszubauen, um die gewerkschaftliche Unterstützung der vorwiegend migrantischen Arbeiter*innen zu ermöglichen.

Arbeitsrechtsverletzungen in drei Akten (Video)

Im Gewerkschaftsbüro der SAT in Almería ist der tägliche Andrang groß. Neben den typischen Arbeitsrechtsverletzungen (Bezahlung unter Mindestlohn, keine Entlohnung von Überstunden und von Wochenend- und Feiertagen etc.) begegnen uns immer wieder außergewöhnliche Fälle. Ein mutiger Gewächshausarbeiter filmte mit einer versteckten Kamera seinen Chef dabei, wie er ihn entlässt, nachdem dieser seine Rechte einfordert. Der Arbeiter fordert, dass alle seine Tage in der Lohnabrechung abrechnet werden sollen und nicht nur ein Drittel. Daraufhin verliert der Chef vollkommen die Nerven und attackiert seinen Angestellten und muss zurückgehalten werden. Die Aufnahme zeigt deutlich, mit welcher Selbstverständlichkeit Unternehmer*innen in Südspanien geltendes Recht missachten. Fundamentale Arbeitsrechte wie die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall oder das Gestatten von Urlaubstagen werden von dem genannten Unternehmer als altruistische Gefallen angesehen.

 

 

 

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